Im Frühjahr haben die EU-Staats- und Regierungschefs der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Bosnien und Herzegowina zugestimmt. Damit ist der Balkanstaat der jüngste EU-Beitrittskandidat. Sarajewo hatte bereits 2016 einen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt. Doch mangelnde Reformen und eine Erweiterungsmüdigkeit der EU ließen lange Zeit keinen Fortschritt zu. Zuletzt ist aber Bewegung in den Prozess gekommen: Im Jahr 2022 erhielt Bosnien und Herzegowina den Kandidatenstatus und im März 2024 grünes Licht für die Aufnahme von Verhandlungen. Über die Herausforderungen eines EU-Beitritts Bosnien-Herzegowinas haben wir mit dem Vorsitzenden der Friedrich-Ebert-Stiftung und ehemaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, gesprochen.
DEKOM: Herr Schulz, Bosnien-Herzegowina ist nach wie vor ein zerrissenes Land. Inzwischen scheint der überwiegende Teil der Bevölkerung Europa zugewandt. Mitte März hat die EU -Kommission dem Europäischen Rat die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Bosnien – Herzegowina empfohlen. Gehört BiH in die EU?
Martin Schulz: Zweifellos hat Bosnien-Herzegowina eine lange europäische Tradition. Es bestehen historisch gewachsene enge kulturelle Verbindungen zu Österreich und Ungarn. Außerdem ist Bosnien-
Herzegowina ein in Teilen muslimisch geprägter Staat. Darin liegt meines Erachtens eine große Chance für die Europäische Union. Sollte der Beitritt Bosnien-Herzegowinas in die Union gelingen, wäre dies zugleich der Beweis dafür, dass ein muslimisch geprägter Staat die EU-Charta anerkennen und in die EU integriert werden kann. Insofern gehört Bosnien-Herzegowina in die EU. Nicht zuletzt auch, um russische und chinesische Einflussnahme zu verhindern.
DEKOM: Es besteht durchaus ein reger Austausch deutscher Kommunen mit Partnerstädten aus Bosnien- Herzegowina – auch wenn es bei manch deutscher Partnerkommune zuletzt Irritationen wegen pro-palästinensischer Demonstrationen in Mostar und Sarajevo gab. Welchen Beitrag können diese internationalen Partnerschaften zur europäischen Integration Bosnien-Herzegowinas leisten?
Martin Schulz: Internationalen Partnerschaften kommt in diesem Zusammenhang eine große Bedeutung zu. Gerade Städtepartnerschaften zielen auf zivilgesellschaftlichen und kulturellen Austausch ab und werden von den Bürgerinnen und Bürgern der Partnerstädte mit Leben gefüllt. Dieser zwischenmenschliche Austausch ist gelebte Integration und trägt zur Verständigung und zum gegenseitigen Verständnis bei. Gerade jetzt ist es umso wichtiger, die europafreundlichen Kräfte im Land zu unterstützen. Bosnien-Herzegowina verzeichnet einen dramatischen Bevölkerungsrückgang. Prozentual ist die Anzahl im Ausland lebender Staatsbürger die zweitgrößte der Welt. Insbesondere die
Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte wird dabei zunehmend zu einem Problem für Bosnien-
Herzegowina.
DEKOM: Kann ein EU-Beitritt die Auswanderungswelle stoppen?
Martin Schulz: Armut, schlechte Gesundheitsversorgung, Korruption und Rechtsunsicherheit führen in der Tat dazu, dass viele Bürgerinnen und Bürger das Land verlassen und ihr Glück vor allem in den USA oder in den EU-Staaten suchen. Jeder dritte Staatsbürger Bosnien-Herzegowinas lebt inzwischen im Ausland. Vor allem ausgebildete junge Menschen kehren ihrem Land den Rücken – mit fatalen Folgen für Gesellschaft und Wirtschaft. Dieser so genannte Brain Drain muss gestoppt werden. Fraglos würden die für eine Integration und Einbindung Bosnien-Herzegowinas in die EU erforderlichen Reformen und die daraus resultierenden ökonomischen Impulse zu besseren Lebensbedingungen vor Ort führen und gerade jungen Menschen eine Perspektive bieten, im Land zu bleiben oder sogar zurückzukehren.
DEKOM: Vielen Dank!