DIW – Studie analysiert, wer von frühzeitiger abschlagsfreier Altersrente profitiert und wer nicht – Zahl der Versicherungsjahre als einziges Kriterium greift zu kurz, stattdessen sollte tatsächliche Beschäftigungsfähigkeit der Versicherten betrachtet werden – Flexiblerer Rentenzugang wäre sinnvoll
Ein erheblicher Teil derjenigen, die nach 45 Versicherungsjahren frühzeitig und abschlagsfrei in Rente gehen, kommt aus Berufen mit vergleichsweise geringer Belastung. Das ist das zentrale Ergebnis einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) auf Basis von Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Die Regelung – in der breiten Öffentlichkeit besser bekannt als „Rente mit 63“ – wird häufig mit stark belasteten Berufsgruppen wie Beschäftigten in der Gastronomie, in der Kranken- und Altenpflege oder dem Handwerk assoziiert. Allerdings bleiben Menschen, die lange in solchen Berufen mit sehr hohen Belastungen gearbeitet haben, oft außen vor, da sie gar nicht auf 45 Versicherungsjahre kommen. Von denjenigen, die abschlagsfrei in Rente gehen können, war weniger als ein Drittel während des Berufslebens im Durchschnitt sehr hoch belastet. Dazu zählen neben körperlicher Anstrengung auch sogenannte psychosoziale Belastungen wie Stress. Demgegenüber waren fast 40 Prozent leicht bis mäßig belastet. „Die Dauer der Erwerbskarriere ist ein unzureichender Indikator, um berufliche Belastungen zu messen“, sagt Hermann Buslei, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Staat im DIW Berlin und einer der Studienautoren. „Hohe Belastungen beobachten wir bei kürzeren Erwerbskarrieren anteilig häufiger, während bei längeren Laufbahnen die Bedeutung von Beschäftigungsphasen mit geringeren Belastungen zunimmt. Als Kriterium für eine vorgezogene Altersrente wäre ein Instrument, das an der tatsächlichen Beschäftigungsfähigkeit der Versicherten ansetzt, sinnvoller“, ergänzt Johannes Geyer. Für die Studie haben Buslei und Geyer gemeinsam mit Lars Felder und Peter Haan Arbeitsmarktbiografien von fast 8 000 Männern des Geburtsjahrgangs 1957 mit deutscher Staatsangehörigkeit ausgewertet. In dieser Stichprobe erreichte gut ein Fünftel 45 oder mehr Versicherungsjahre. Frauen konnten nicht einbezogen werden, da die IAB-Daten keine Informationen zu Kindern und Kindererziehungszeiten enthalten, die für den Anspruch auf eine Rente nach 45 Versicherungsjahren aber mitzählen. Männer machen diese Erziehungszeiten kaum bis gar nicht geltend. Die Analyse konzentriert sich auf westdeutsche Männer, da für ostdeutsche entsprechende Daten nicht durchgehend vorliegen. Die Arbeitsbelastung wird mit mehreren Indizes gemessen, die zwischen physischen und psychischen Belastungen unterscheiden.
Flexibilisierungsbedarf beim Rentenzugang
Die Studienautoren empfehlen, die gesundheitliche Leistungsfähigkeit stärker in den Fokus zu rücken, wenn es darum geht, wer frühzeitig und abschlagsfrei in Rente darf. „Wir brauchen zielgerichtete Instrumente, die sicherstellen, dass besonders belastete Berufsgruppen, die oft gar nicht auf 45 Versicherungsjahre kommen, nicht durchs Raster fallen“, so Lars Felder. Ein Beispiel biete Österreich mit der sogenannten Schwerarbeitspension, für die neben der Dauer einer Tätigkeit auch deren Belastung eine Zugangsvoraussetzung ist. Im Vordergrund stehen dabei aber körperliche Belastungen, die um psychische ergänzt werden müssten, um der heutigen Arbeitswelt gerecht zu werden.
Denkbar wäre den Autoren zufolge auch ein altersabhängiges Berufsunfähigkeitskriterium, das belasteten Menschen frühere Rentenzugänge ermöglicht, ohne die Kosten des Systems zu sprengen. Gefragt sei eine gewisse Flexibilität, die sowohl den Zugang in eine Altersrente ermögliche als auch teilweise weiterzuarbeiten – je nachdem, wie belastbar eine Person tatsächlich ist. Der Verwaltungsaufwand wäre zwar höher, räumen die Studienautoren ein, die Kosten dürften im Vergleich zur derzeitigen Rente nach 45 Versicherungsjahren aber dennoch geringer ausfallen. „Eine solche Reform würde für mehr Gerechtigkeit sorgen und die Rentenversicherung langfristig zukunftsfähiger machen“, resümiert Peter Haan. DIW, 27.11.2024