Gewalt bleibt hoch, Politik taucht unter
Nach einem enormen Anstieg zwischen 2018 und 2022 stagniert die Zahl der Schulen, an denen Lehrkräfte Gewaltvorfällen ausgesetzt sind, seither auf hohem Niveau. So kam es innerhalb der letzten fünf Jahre an 65 Prozent der Schulen zu psychischen (2018: 48%) und an 35 Prozent der Schulen zu physischen Gewaltvorfällen gegen Lehrkräfte (2018: 26%). 36 Prozent der befragten Schulleitungen berichteten davon, dass Lehrkräfte ihrer Schule Opfer von Cybermobbing wurden (2018: 20%).
Eine Unterstützung nach Gewaltvorfällen scheitert oft an uneinsichtigen Täterinnen und Tätern und kooperationsunwilligen Eltern. Allerdings werden auch die zu hohe Aufgabenfülle, bürokratische und aufwändige Strukturen bei der Meldung von Gewaltfällen und unzureichende Unterstützung durch den Dienstherrn genannt. Wie schon 2022 berichtet fast ein Fünftel der Schulleitungen, dass die Meldung von Gewaltvorfällen seitens der Schulbehörde nicht gewünscht sei.
Bundesweit verfügt nur gut die Hälfte der Schulen über einen alternativen Alarm, der Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte im Falle eines Amoklaufs warnt, Schutz zu suchen.
Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) gibt seit 2016 die repräsentative Umfrage zum Thema „Gewalt gegen Lehrkräfte“ bei forsa in Auftrag. Seit 2018 werden Schulleitungen zu diesem Thema in regelmäßigen Abständen befragt. Hierzu Gerhard Brand, Bundesvorsitzender des VBE: „Mit unseren Umfragen zu Gewalt gegen Lehrkräfte konnten wir die Behauptung, Gewalt gegen Lehrkräfte sei ein Randphänomen und trete nur in Einzelfällen auf, wissenschaftlich valide entkräften. Die Realität zeichnet leider ein anderes Bild.“
In diesem Jahr wollten wir erstmals allgemein wissen, wie sich Gewalt in den Schulen entwickelt hat, unabhängig davon, gegen wen sie sich richtete. Knapp zwei Drittel der Schulleitungen sahen in den letzten fünf Jahren eine Zunahme. Besonders junge und Schulleitungen an Haupt-, Real- und Gesamtschulen teilten diesen Befund. Brand vermutet: „Der Umgang mit Gewalt hat sich in den letzten Jahrzehnten glücklicherweise verändert. Was früher noch als Kavaliersdelikt verharmlost wurde, wird mittlerweile klar als Gewalt benannt. Insbesondere junge Schulleitungen, die bereits mit diesem Bewusstsein aufgewachsen sind, gehen sensibler mit dem Thema Gewalt um. Das ist gut so und lässt uns auf weitere Entwicklungen auf diesem Gebiet hoffen.“
Laut der aktuellen Umfrage kam es bundesweit innerhalb der letzten fünf Jahre an 65 Prozent der Schulen zu psychischen und an 35 Prozent der Schulen zu physischen Gewaltvorfällen gegen Lehrkräfte. 36 Prozent der befragten Schulleitungen berichteten davon, dass Lehrkräfte ihrer Schule Opfer von Cybermobbing wurden. Brand findet klare Worte: „Es ist unerträglich, dass Lehrkräfte weiterhin in diesem hohen Maße zum Opfer von Gewalt werden, während sie ihrem Dienst nachgehen. Bereits 2020 haben wir Alarm geschlagen, als die Werte auf einmal durch die Decke gingen. Seitdem hat sich nichts getan, um die Lehrkräfte besser zu schützen. Die Werte stagnieren oder nehmen sogar noch leicht zu. Jedes Jahr, jeder Monat und jeder Tag, an dem der Dienstherr hier untätig bleibt, fordert neue Opfer unter den Lehrkräften. Wir fordern die Politik nachdrücklich dazu auf, den Schutz der Lehrkräfte endlich ernst zu nehmen und mit aller Konsequenz für ihren Schutz zu sorgen, anstatt den Kopf in den Sand zu stecken. Der Schutz der Lehrkräfte fällt nicht vom Himmel.“ Insbesondere an Haupt-, Real- und Gesamtschulen (74%) sowie Förder- und Sonderschulen (68%) kommt es in besonderem Maße zu Fällen psychischer Gewalt. Auch körperliche Angriffe auf Lehrkräfte treten vermehrt, fast doppelt so oft wie im Durchschnitt, in Förder- und Sonderschulen auf (66%).
In den meisten Fällen wurden Schülerinnen und Schüler und deren Eltern zu Tätern gegenüber Lehrkräften. So gingen beispielsweise physische Übergriffe in 97 Prozent der Fälle von Schülerinnen und Schülern aus, welche auch im Falle von Cybermobbing in 72 Prozent der Fälle am häufigsten von den Schulleitungen als Täter genannt wurden. Im Falle psychischer Gewalt in direkter Begegnung nannten die Schulleitungen Eltern (79%) als häufigste Tätergruppe. Zudem kam es innerhalb der letzten fünf Jahre an 11 Prozent der Schulen dazu, dass erwachsene Menschen ohne jegliche Verbindung zur Schule zu Tätern gegenüber Lehrkräften werden. Dieses Phänomen trat erstmals zutage, als es im Zusammenhang mit der Umsetzung der coronabedingten Hygienemaßnahmen dazu kam, dass schulfremde Menschen Lehrkräfte stellvertretend für die Politik verantwortlich für die damalige Situation machten. Damals wurden bis zu einem Viertel der Gewaltvorfälle von Menschen ohne Bezug zur Schule ausgeübt (Vgl. 2021: 24% Cybermobbing). Hierzu Brand: „Wir dürfen nicht dulden, dass Menschen ohne Bezug zur Schule Lehrkräfte als Projektionsfläche für ihre politische Unzufriedenheit auserkoren haben und ihre Frustration und ihren Hass an unseren Kolleginnen und Kollegen ausleben. Die Schülerinnen und Schüler – insbesondere an den Grundschulen – befinden sich noch in der Entwicklung, was ihre emotionalen und sozialen Kompetenzen angeht. Entscheidet sich aber ein erwachsener Mensch ohne Bezug zur Schule, Gewalt gegen Lehrkräfte auszuüben, kann und darf es keine Entschuldigungen geben. Der Dienstherr muss dieser Entwicklung endlich Einhalt gebieten.“
Nur gut die Hälfte der Schulleitungen ist der Meinung, betroffene Lehrkräfte ausreichend unterstützen zu können. Meist scheitert es an uneinsichtigen Täterinnen und Tätern (74%) und kooperationsunwilligen Eltern (71%). Allerdings werden auch die zu hohe Aufgabenfülle (58%), bürokratische und aufwändige Strukturen bei der Meldung von Gewaltfällen (49%) und unzureichende Unterstützung durch den Dienstherrn genannt (35% Ministerium, 27% Schulverwaltung). Wie schon 2022 berichtet fast ein Fünftel der Schulleitungen, dass die Meldung von Gewaltvorfällen seitens der Schulbehörde nicht gewünscht sei. Brand: „Ob Täterinnen und Täter Einsicht zeigen, ist eine individuelle Frage, die wir nur wenig beeinflussen können. Wenn allerdings 18 Prozent der Schulleitungen sehen, dass die Meldung von Vorfällen seitens der Schulbehörden nicht gewünscht ist, hinterlässt uns das fassungslos. Die Fürsorgepflicht des Dienstherrn endet nicht, wenn es unangenehm wird. Vielmehr ist sie besonders bedeutsam, wenn Lehrkräfte Opfer von Gewalt werden. Anstatt Meldungen kritisch gegenüberzustehen, sollte der Dienstherr niedrigschwellige Meldungen und eine umfassende psychologische und juristische Unterstützung ermöglichen.“
Auch im Bereich der Prävention sehen Schulleitungen einige Hürden. Insbesondere der allgegenwärtige Personalmangel verhindert vielerorts gelingende Präventionsarbeit. Dies meldeten vier von fünf Befragten. Fast ebenso oft wünschen sich Schulleitungen eine engere Zusammenarbeit mit staatlichen Institutionen (77%) und die Unterstützung durch multiprofessionelle Teams (75%). Ebenso wünschen sich mehr als zwei Drittel der Schulleitungen mehr Angebote zur Fort- und Weiterbildung.
Erstmalig wurde in diesem Jahr abgefragt, ob Schulen mit einem zweiten Alarmsignal ausgestattet sind, um Schülerschaft und Lehrkräfte – beispielsweise im Fall eines Amoklaufs – dazu aufzufordern, im Unterrichtsraum zu verbleiben und sich zu verbarrikadieren. Dies konnten lediglich gut die Hälfte der Schulleitungen bejahen. An 43 Prozent der Schulen gibt es diese zusätzliche Sicherheitsvorkehrung nicht. Hierzu Brand: „Die Kommunen müssen an dieser Stelle stärker in die Pflicht genommen werden. An dem Schutz und der Sicherheit aller an Schule Beteiligten darf kein Preisschild hängen. Hier muss die Politik nachbessern und im Zweifelsfall finanziell klammen Kommunen unter die Arme greifen.“ VBE, 24.01.2025