Warum die Fenster in Klassenräumen meist auf der linken Seite sind

Seit September leitet Professor Christian Timo Zenke das Lehr- und Forschungsgebiet Innovation und Transfer in Bildungssystemen am Institut für Erziehungswissenschaft der RWTH Aachen. Wenn er eine Vorlesung hält, stellt er seinen Studierenden gern folgende Frage: „Als Sie zur Schule gingen: Auf welcher Seite waren da die Fenster in Ihrem Klassenraum?“ Die meisten heben die linke Hand. Das zeigt nicht etwa, dass viele dieselbe Schule besucht haben, sondern nach welchem Konzept die Lehrgebäude aufgebaut sind. Ein Konzept, das Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt wurde und der Überzeugung folgte, alle Schülerinnen und Schüler seien Rechtshänder. Damit beim Schreiben kein Schatten auf das Papier fällt, wurden die Fenster auf der linken Seite eingebaut. „Wie Klassenräume gestaltet sind, ist kein Zufall, sondern basiert auf bewussten pädagogischen Entscheidungen“, sagt Professor Zenke. Die Tür zum Klassenraum befindet sich in der Regel vorn, nahe dem Pult, sodass sich niemand nach Beginn des Unterrichts an der Lehrkraft vorbeischleichen kann. Und auch die Anordnung des Mobiliars erfüllt einen bestimmten Zweck: Auch heute noch sind Tische und Stühle in der Regel nach vorne hin ausgerichtet, so dass der Lehrer oder die Lehrerin im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Früher diente diese Anordnung dazu, Disziplin und Ordnung bei den Kindern und Jugendlichen zu fördern. Heute liegen die pädagogischen Schwerpunkte beispielsweise auf der Förderung von Selbstständigkeit und Kooperation – und das verlangt eine Anpassung der Räume. Zenke begleitet Schulen dabei, den neuen Anforderungen gerecht zu werden. Es ist ihm besonders wichtig, die Lehrkräfte aktiv einzubinden und bei diesem Wandel zu unterstützen. Jede Schule sei einzigartig und müsse jeweils individuell bei einer möglichen Umstrukturierung unterstützt werden. „Die Schule ist der Motor der Veränderung, ein Ort, an dem Innovationen entstehen.“ Diese Innovationen an andere Lernorte weiterzutragen, ist eine essenzielle Aufgabe des Pädagogen. Wie stark Räume unser Verhalten beeinflussen, erklärt Zenke gern anhand eines anschaulichen Beispiels: „Es ist ein Unterschied, ob Sie zu einer Geburtstagsfeier in einen Partykeller oder in ein nobles Restaurant eingeladen werden.“ Die Umgebung beeinflusse nicht nur die Wahl der Kleidung, sondern auch das soziale Miteinander. Jetzt sei ein guter Zeitpunkt, die Architektur von Schulgebäuden zu überdenken, so Zenke: Viele Schulen aus den 1960er- und 1970er-Jahren sind sanierungsbedürftig. Wie also könnten Lernorte in Zukunft aussehen? Statt geschlossener Klassenzimmer, in denen traditionell alle Schülerinnen und Schüler demselben Unterricht folgen, ist eine mögliche Lösung ein offenes Konzept. Unterschiedliche Bereiche für Gruppenarbeiten, Einzelgespräche oder Rückzugsorte zum Lesen schaffen mehr Flexibilität. Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen sowie andere Fachkräfte könnten das Lehrpersonal ergänzen. Und noch etwas geht mit dem offenen Konzept einher: „Unterricht wird zu einer öffentlichen Angelegenheit“, erklärt Zenke. Lehrkräfte könnten voneinander lernen, sich austauschen und als Team arbeiten, anstatt für sich allein zu unterrichten. Zenke beschäftigt sich schon lange mit dem Gesamtsystem Schule. Nach seiner Ausbildung zum Erzieher im Berufskolleg studierte der 45-Jährige Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis an der Universität Hildesheim, promovierte dort im Fachbereich Erziehungs- und Sozialwissenschaften und machte zudem eine Weiterbildung zum Schulbauberater. Zuletzt war Zenke Stellvertretender Leiter der Wissenschaftlichen Einrichtung Laborschule an der Universität Bielefeld, bevor er an die RWTH wechselte. RWTH Aachen, 04.12.2024

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